Über die Philosophie des Blauen Eisenhuts
Sie durften aus unseren Objekten ein Lieblingsobjekt auswählen – was hat für den Blauen Eisenhut gesprochen?
Peter Weibel:
Ich bin ein bisschen ein Nominalist. Wörter haben auf mich eine große Wirkung. Deswegen kann ich zum Beispiel einen Tintenfisch nicht essen und wenn ich das Wort Kopfschmerzen lese, bekomme ich gleich Kopfschmerzen.
Der Name meines Lieblingsobjektes „Blauer Eisenhut“ ist für mich sehr ansprechend. Erstens ist Blau meine Lieblingsfarbe und zweitens erinnert der Name Eisenhut an Prinz Eisenherz von König Artus‘ Tafelrunde. Ich befinde mich also in nobler und edler Gesellschaft.
Außerdem wächst die Pflanze in Europa, dem Herzstück meines Denkens.
Was fasziniert Sie an diesem Objekt?
Besonders interessant sind die schillernde Geschichte und der ambivalente Gebrauch dieser Pflanze, denn sie ist ein Beispiel für negative Dialektik. Einerseits ist sie ja bekannt als beliebtes Mord- und Pfeilgift, aber gleichzeitig ist sie, in homöopathischen Dosen verabreicht, auch eine Heilpflanze. Diese Pflanze offenbart Grundzüge der Welt, einerseits giftig, aber gleichzeitig heilend, so wie die Sonne die Quelle unserer Energie ist, aber gleichzeitig ohne die Atmosphäre die Erde verbrennen würde. Über die Pflanze Blauer Eisenhut könnte man eine Philosophie des Kosmos entwickeln, ohne in den Manichäismus abzugleiten. Diese Pflanze wächst zwar in unserer Heimat, dem Schwarzwald, ist aber dennoch unheimlich, so wie der Schwarzwald selbst.
Was haben Sie mit dem Objekt gemeinsam?
Gemeinsam ist nur, dass diese Pflanze ein Modell bzw. ein Bild der Wirklichkeit ist, im Sinne von Heinrich Hertz, der immer wieder betonte, dass die Wissenschaft Bilder der Wirklichkeit liefert und nicht die Wirklichkeit selbst. Zu meiner Biografie und meinem Beruf gehört die stete Frage nach der Funktion des Bösen. Wenn der Sinn der Evolution das Leben ist und sie deswegen die sagenhaften Verführungstechniken der Liebe und der Sexualität einsetzt, um die Fortsetzung des Lebens durch Reproduktion zu erwirken, kann man sich fragen, wieso das Böse oft erfolgreicher als das Gute ist und wieso sie den Tod erfunden hat, um das Leben zu beenden. Hier haben wir ebenso eine Pflanze, das ein und dasselbe Objekt, das Leben beenden kann und durch Heilung das Leben befördern kann. Welches Bild der Natur ergibt sich daraus?
Wenn Sie Ihr Lieblingsobjekt mit nach Hause nehmen dürften, wo und wie würden Sie es aufbewahren beziehungsweise präsentieren?
Wenn ich einen Blauen Eisenhut mit nach Hause nehmen dürfte, würde ich ihn in den Garten pflanzen, ihn aber mit Glasscheiben umgeben, um alle Lebewesen davor zu schützen, ihm zu nahe zu kommen. Ich würde die Pflanze gewissermaßen voller Respekt, aber auch voller Argwohn beobachten und mich auf die Entfernung an ihrer Schönheit erfreuen. Vor dem Glaskasten würde ich einen kleinen Altar errichten, auf dem sich das Buch “Das geheime Leben der Pflanzen” (1973, Peter Tompkins/Christopher Bird) befände, in der Hoffnung, eines fernen Tages alle Geheimnisse und Rätsel der Pflanzen zu lösen.
Peter Weibel (1944-2023) war seit 1999 Vorstand des ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe und seit 2017 Direktor des Peter Weibel Forschungsinstituts für digitale Kulturen an der Universität für angewandte Kunst Wien. Durch seine vielfältigen Aktivitäten als Künstler, Kurator, Theoretiker und Lehrer galt er als zentrale Figur der europäischen Medienkunst. Er hat Literatur, Medizin, Logik, Philosophie und Film in Paris und Wien studiert.
Stand: März 2023