Der Glaube an die Existenz von Einhörnern stammt wohl aus dem Orient und gelangte über die Gelehrten der Antike und des Mittelalters allmählich in den europäischen Volksglauben. Plinius der Jüngere (um 100 n. Chr.) beschreibt das Einhorn als seltsam, mit dem Leib eines Pferdes, dem Schwanz eines Schweines, dem Kopf eines Hirsches und den Füßen eines Elefanten. Zu dieser Beschreibung passt ein tatsächlich existierendes und zu dieser Zeit in Europa unbekanntes Tier: das Indische Panzernashorn (Rhinoceros unicornis).
Unser Sammlungsstück zeigt auf der Rückseite der Banderolen, die es umschlingen, allerdings Kupferstiche eines pferdeähnlichen Wesens mit einem einzelnen, gedrehten Horn auf der Stirn, gespaltenen Hufen und einem Ziegenbart. Diese Darstellung von Einhörnern war seit dem 15. Jahrhundert üblich und basiert auf den Schilderungen Ktesias, dem Leibarzt des Perserkönigs Artaxerxes II (um 400 v. Chr.). Grundlage hierfür könnten Oryx- oder Rappenantilopen mit einem abgebrochenen Horn gewesen sein.
Wie auch immer der Glaube an die Existenz von Einhörnern entstand, bei unserem Sammlungsstück handelt es sich eindeutig um den fossilen Stoßzahn eines Wollhaarmammuts (Mammuthus primigenius). Diese Elefantenart durchstreiften Eurasien und Nordamerika bis zum Ende der letzten Kaltzeit vor ca. 10.000 Jahren. Die Mammutstoßzähne galten als „Unicornu verum“, als „echtes Einhorn“ – im Gegensatz zum „Unicornu falsum“, dem „falschen Einhorn“, bei dem es sich um Knochen und Zähne anderer kaltzeitlicher Großsäuger, wie Wollnashorn und Höhlenbär, oder gedrehte Stoßzähne von Narwalen handelte.
Alles in Allem haben sich wohl die wundersamen Berichte von Orientreisenden mit den realen Fossilfunden kaltzeitlicher Großsäuger zum Volksglauben über Einhörner und andere Fabelwesen entwickelt und über mehrere Jahrhunderte Einzug in Kunst, Kultur und Alltag der Menschen gehalten.